Diese Erzählung aus der Ritterzeit der Burg Hohenegg fand sich im Archiv der Volksschule Markersdorf/ Haindorf; Herr Direktor OSR Wilhelm Schulz stellte sie in dankenswerter Weise zur Verfügung.
Es war einmal ein rauher, trüber Novemberabend. Die grauen Nebel formten sich zu unheimlichen Gestalten. Immer mehr drängten sie sich zusammen. Es sah aus, als ob sich die wilde Jagd in dieser Verkleidung sammeln wollte.
Auf dem steinigen Pfade, der steil zur Hohenegg aufwärts führte, ging sicheren Schrittes ein junger Mann. Das Barett hatte er fest über den blonden Lockenkopf gezogen. Ihm konnten die nebelhaften, tückischen, böswilligen Gestalten keinen Streich spielen, wie sehr sie auch die Wegränder belagerten und den zu rechter Hand abfallenden Abgrund mit einem trügerischen Schleier bedeckten. Der Wanderer kannte zu gut seinen Weg. Wie sollte auch ein Singerlein seinen Weg nicht kennen? Denn so wurde er genannt in den Bergen und Burgen.
Heute hatte er schon einen langen Weg hinter sich und war froh, bald unter Dach zu kommen. Auf Hohenegg hatte niemand Ahnung von dem Kommen Singerleins, wie er überhaupt kam und ging, wie es ihm behagte. Der Turmwächter hatte ihn wohl auch nicht bemerkt, war ja das Tal, das der stolzen Feste zu Füßen lag, in tiefen, undurchdringlichen Nebel gehüllt. So war der Torwart der erste, der Singerlein begrüßte.
Im großen Saale der Burg saß Ritter Heribert mit seiner Gemahlin und seinem sechsjährigen Söhnchen beim wärmenden Kamin. Finster blickten die Augen des Burgherrn in das Feuer. Die aufflackernden Flammen beleuchteten hin und wieder das scharf regelmäßig geschnittene Gesicht des Ritters. Die dunklen, starken Augenbrauen zogen sich manchmal unmutig zusammen. Frau Ilse musste den Grund des Unmutes ihres Gebieters wohl kennen, denn sie war eifrig bemüht, dessen Unwillen zu sänftigen. Der kleine Siegbert spielte mit einem hölzernen Schwert zu Füßen der Mutter. Der blondlockige Knabe, das getreue Abbild seiner Mutter, war in sein Spiel so vertieft, dass er die Erregung des Vaters gar nicht bemerkte. So das Bild im Rittersaale, als Singerlein, vom Burgvogt begleitet, eintrat. Erstaunt wandten sich die Blicke dem Ankommenden zu. Dieser ging zuerst zu Frau Ilse, ihr seine Huld in minniglicher Art darzubringen. Alsbald aber wandte er sich dem Burgherrn zu, diesem seine Dienste anzubieten. Der kleine Siegbert umklammerte die Knie des Sängers, hatte er doch jetzt einen lustigen Gespielen.
Ritter Heribert hatte wenig Sinn für die Schönen Künste. Ihm galten von den sieben ritterlichen Künsten die der Jagd und der Kampfspiele wohl am höchsten. So kam es auch, dass er die Ankunft Singerleins gleichgültig, wenn nicht sogar kalt, aufnahm. Die Hausfrau hingegen sagte ihm ein freundliches Willkommen und war froh, dass durch das Kommen des fahrenden Sängers einige Abwechslung in das öde Winterleben auf der Burg gebracht werden sollte.
Nun nahte schon der Jahrestag des Turnieres auf der Osterburg. Damals vor einem Jahre waren die Herren von Hohenegg und Osterburg noch gute Freunde. Voll guten Mutes gingen sie in die Schranken. Da trat ein fremder Ritter in den Kreis der versammelten Ritter und forderte die stärksten und waffengewandtesten zum Zweikampf. Konrad, Herr auf Osterburg, wollte sich die Ehre nicht entgehen lassen und stellte sich dem Fremden. Die Rosse bäumten sich, die Lanzen zerbrachen und nach hartnäckigem Kampfe sank Konrad in den Sand. Jetzt trat Heribert von Hohenegg vor. Er hatte die Kampfweise des Fremden mit Kennerblick beurteilt. Aber auch er hatte Mühe, diesem standzuhalten. Endlich entschied sich der Kampf zu Gunsten des Hoheneggers. Dem Fremden wurde, da er sich tapfer geschlagen hatte, freies Geleite gegeben. Heribert bekam zum Dank einen goldenen Becher. Mit diesem Becher zog aber auch die Feindschaft zwischen Hohenegg und Osterburg ein. Konrad von Osterburg beschuldigte den Hohenegger eines Verstoßes gegen die Kampfregel. Diese Beleidigung wollte der stolze Hohenegger nicht auf sich ruhen lassen. Er warf dem Nachbarn den Fehdehandschuh hin und verließ die Burg.
Die Ankunft Singerleins war bald in der ganzen Burg bekannt und nach und nach fanden sich Pagen und Knappen unter irgend einem Vorwande im Rittersaale ein, um dem Singen und Sagen des weitgereisten Mannes zu lauschen oder um sich an den lustigen Schnurren, wie sie dem Singerlein jederzeit zu Gebote standen, zu ergötzen. Alle freuten sich über die Anwesenheit des lustigen Kauzes, der die trüben Stunden so verschönern konnte, der die Macht hatte, die Langeweile, die sich manchmal unbemerkt einschleichen wollte, weit weg zu bannen, der den schelmischen Hauskobolden am Kamin oder unter dem Eichentische nur zu pfeifen brauchte, um von ihnen allerlei Schelmenstücklein zu lernen.
So vergingen die trüben Tage wie im Fluge und der Frühling ließ bereits seine ersten Glocken läuten.
Nun war es bald ein Jahr. Bangen Herzens sahen die Bewohner auf Hohenegg diesem Tage entgegen. Am Morgen besagten Tages kam Frau Ilse verweint aus ihrer Kemenate. Der Schlossherr zog seine Stirnfalten. Der kleine Siegbert blieb heute am liebsten in der Nähe Singerleins. Diesem hätten wohl heute alle Schnurren nicht geholfen. So ging der böse Tag zur Neige und alles war darum froh, denn alles hoffte, dass mit der untergehenden Sonne wieder eine böse Erinnerung in die Vergangenheit versinken würde.
Doch es kam anders. Das Abendrot bedeutete Neid, Hass. Als die letzten roten Wölklein, die noch über den entfernten Wäldern hinzogen, verblassten, schlichen sich stahlgepanzerte Gestalten durch das Dickicht gegen den Schlossgraben. Schlau und katzenhaft suchten sie sich den scharfen Blicken des Turmwächters zu entziehen. Erst als volle Dunkelheit herrschte, kamen sie hervor und schlichen der linksseitigen Böschung zu. Hier war die günstigere Gelegenheit, an die Mauer und an das Tor heranzukommen. Die Benützung des Weges wäre unmöglich gewesen, da ihn der Vollmond scharf beleuchtete. Das dichte Gesträuch der Böschung schaffte die nötige Deckung. Mit unsäglicher Mühe konnten sich die gepanzerten Gestalten aufwärts schieben. Der erste, der oben ankam, war Konrad von Osterburg. Um vom Turmwächter nicht gesehen zu werden, legte er sich knapp vor dem Tore auf die Erde. Alle später Ankommenden lagerten sich neben dem Wege im Dickicht. Als sich der Mond hinter den Wolken verzogen hatte, stand Konrad auf und begehrte Einlass. Der Torwart riss den Laden des Torzimmers auf. Da er aber in der Dunkelheit nichts erblicken konnte als die Umrisse des einzelnen Wanderers, denn für einen solchen gab sich Konrad aus, ließ er die Ketten der Brücke hinab und öffnete das Tor. Kaum hatte Konrad die Brücke überschritten, bemächtigte er sich des Torwächters. Die Kameraden Konrads drängten nach und überwanden die auf den Hilferuf des Torwarts herbeigeeilten Wachen. Die Verwirrung im Burghof nützend, legten die Osterburger Spießgesellen jeden in Ketten, der sich nicht freiwillig ergab.
Heribert, angetan mit der Rüstung, stand an der Tür des Rittersaales. Er suchte das Tor zu behaupten, aber vergebens. Frau Ilse eilte herbei und bat mit aufgehobenen Händen um Schonung. Es half nichts, Heribert und Ilse wurden gefangen abgeführt.
Singerlein hörte den Jammer der Mutter nach ihrem Kinde. Ihm war es gelungen, sich zu verbergen. Vorsichtig eilte er hinauf, riss den sanft schlafenden Knaben aus dem Bettchen und verbarg sich mit ihm in einem Stiegenwinkel.
Nachdem die Osterburger die Gefangenen abgeführt hatten, machte Ritter Konrad seine Gesellen mit altem Schlossweine bezahlt. Nach einigen Stunden kam Singerlein aus dem Versteck hervor, um den Zustand des neuen Torwartes auszukundschaften. Dieser lag in tiefem Schlafe und hatte seine Rüstung abgelegt. Mit schnellem Griffe bemächtigte sich Singerlein des Ringelhemdes, des Helmes und Schildes und ging das Kind holen. Er nahm es auf den Arm und ging in das Torzimmer. „Heda Kamerad, schließe auf, ich habe den Buben abzuführen!“ so herrschte er den Torwart an. Da Singerlein in der Rüstung der Osterburger erschien, holte der verschlafene Wärter die Schlüssel und entließ die beiden. Singerlein ging so schnell, als es die Dunkelheit erlaubte, den Berg hinab. Im Schutze der unteren Waldungen suchte er eine Schlafstätte, um das geängstigte Kind zur Ruhe zu betten. Er selbst legte Ringelhemd und Schild ab und verbarg es im Gesträuch. Am nächsten Morgen, als die Sonne schon hoch am Himmel stand, machten sich die beiden auf
den Weg. Siegbert fragte nach Vater und Mutter, Singerlein tröstete ihn und sagte ihm, dass sie viel anschauen und dann zu Vater und Mutter kommen würden. Sie wanderten von einer Burg zur anderen. Überall erzählte Singerlein von dem Unglücke des Hoheneggers und forderte die Herren auf, dem Unglücklichen zum Rechte zu verhelfen. Er sagte, dass das Vorgehen des Osterburgers eines deutschen Ritters unwürdig sei. Diese Reden fielen auf fruchtbaren Boden. Überall erregte der kleine Siegbert Mitleid. Die Ritterschaft rief ihre Mannen zu den Waffen. Als Konrad die Übermacht sah, musste er sich zu einem Ausgleiche verstehen. Aber nicht mit Feindschaft im Herzen sollten die beiden Ritter auseinandergehen.
Singerlein gelang es, das Herz des Osterburgers zu rühren. Den Knaben an der Hand führend, fragte er Konrad, ob dieser sein Vorgehen vor dem Kinde, dem er alles genommen, verantworten könne. Da ließ Konrad den Gefangenen die Ketten abnehmen und bot die Hand zur Versöhnung. Singerlein übergab das Kind den freudbewegten Eltern, die es überglücklich in die Arme schlossen. Siegbert erzählte von den vielen Burgen, die er gesehen hatte.
Frau Ilse dankte unter Tränen dem Beschützer ihres Kindes. Heribert wollte dem Singerlein auf seiner Burg ein Heim schaffen; doch dieser schlug es aus und erbat sich den Becher, der mit seinem Eingang auf Hohenegg Unheil brachte. Konrad, der ihn mit der Beute nach Osterburg gebracht hatte, ließ ihn holen und reichte ihn dem Sänger. Singerlein ging an das hohe Fenster des Saales und schleuderte das Gefäß in weitem Bogen hinunter in den Abgrund. Hierauf tat er schelmisch lächelnd seinen Entschluß kund: „Ich habe keine Heimat, zieh in die Welt hinaus; Der Herrgott, der mich lieb hat, gibt mir das größte Haus. Will bleiben, was ich sonst war, will bleiben, was ich bin: in sonniger Welt ein Schalknarr, ein frohes Singerlein!“
Nach diesen Worten war er zur Tür hinaus und ging lustig seiner Wege.